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Tiefenimagination PTPP® versus Schamanismus  
Unterschiede zwischen Schamanismus und dem Personal Totempole Process
von Mary Diggin

Traditioneller Schamanismus ist an spezielle kulturelle Sinngebungen und Rituale gebunden. Ein schamanisch Praktizierender erreicht veränderte Bewusstseinszustände, um mit der geistigen Welt in Berührung zu kommen und mit ihr zu interagieren. Obwohl sich das Wort „Schamane“ ursprünglich auf eine Tradition in Nordostasien (Sibirien) bezieht, wird dieser Begriff mittlerweile verwendet, um ähnliche Methoden in verschiedenen anderen Kulturen zu beschreiben. 

Weltweit gibt es unter indigenen Kulturen also viele verschiedene schamanische Traditionen, jede mit eigenen Vorstellungen, Glaubenssystemen und Praktiken. Schamanismus wird oft als „Archaische Ekstasetechnik“ (Eliade) verstanden und beinhaltet in der Art, wie er praktiziert wird, einen religiösen bzw. Glaubens-Aspekt. 

Heute gibt es eine Vielzahl an modernen und neoschamanischen Praktiken, die traditionelle schamanische Lehren heranziehen, ohne notwendigerweise wirklich mit einer dieser kulturellen Traditionen verbunden zu sein. Diese Praktiken beinhalten nicht selten ein aus verschiedenen Kulturen stammendes Arsenal an spezifischen Ideen hinsichtlich der Struktur der Imagination, der Bedeutung verschiedener geistiger Führungswesen sowie des Prozesses des Reisens selbst. Oft werden schamanische Reisen dabei als Mittel zur Informationsgewinnung hervorgehoben. 

 

Ähnlichkeiten 

 

Schamanismus – sowohl in seinen traditionellen wie auch moderneren Formen – und Personal Totempole Process PTPP®  würdigen die Imagination als Weg des Wissens. Wie Dr. Gallegos erklärt ist

 

Wissen durch Imagination die vorrangige Domäne des Schamanen; er erkennt die Imagination als grundlegende, über unser durch Denken und Sinneswahrnehmungen erlangte Wissen hinausgehende Dimension an, wenngleich es hier sicherlich auch Überschneidungen geben mag." (E.S. Gallegos: Animals of the Four Windows, S. 21) 

 

Was die Gewichtung und die Art und Weise des Umgangs mit der Imagination angeht, gibt es jedoch zwischen Schamanismus und dem Personal Totem Pole Process PTPP® eine Vielzahl an Unterschieden.

 

Unterschiede

 

Innere Landschaften erforschen

Ein erster wichtiger Unterschied zwischen PTPP® und Schamanismus ist, dass der Personal Totem Pole Process keine religiöse Tradition darstellt. Stattdessen wird er am besten als tiefenpsychologischer Zugang zu Imagination und Psyche beschrieben. Das jungianische und post-jungianische Verständnis von inneren Bildern, von Imagination und aktiver Imagination kann genauso wie auch Jung´s eigene, im Roten Buch beschriebene Erfahrungen zum Verständnis dessen beitragen, was eine Reise in die Tiefe Imagination mit sich bringt. 

 

Der Personal Totempole Process beinhaltet eine spezielle Art, sich auf die tiefe Imagination einzulassen und erlaubt, Anteile des Bewusstseins zu erforschen, indem eine Beziehung zur eigenen Imagination aufgebaut wird. Es handelt sich dabei nicht um eine Methode, die an irgendeine Kultur gebunden ist. Stattdessen ermutigt PTPP® die Beteiligten, ihre eigene Imagination zu erforschen, und zwar mit so viel Offenheit und Tiefe wie möglich. Auf diese Weise können die Reisenden selbst entdecken, wie ihre tiefe Imagination arbeitet, wie sie strukturiert ist und welche Orientierungshilfen und Führungswesen es für sie in ihrem Inneren gibt.

 

Tiefe Imagination ist eine Dimension mit einer eigenen Integrität. Auch wenn wir versuchen mögen, sie zu kontrollieren und zu manipulieren in der Art und Weise, in der wir es mit der uns umgebenden Welt gelernt haben, so sollten wir uns doch daran erinnern, dass sie selbst vollständig lebendig und zutiefst organisch ist, dass sie ihre eigene innewohnende Intelligenz besitzt, und ganz nah die Orte in uns berührt, aus denen unserer reines Sein entspringt.“ (21) 

Innere Bilder als Werkzeuge des Bewusstseins …

Der Personal Totem Pole Process® basiert genauso wie andere tiefenpsychologische Herangehensweisen auf der Einsicht, dass die Imagination, also das Entwickeln von inneren Bildern, das ursprüngliche Werkzeug des Bewusstseins darstellt, und somit die grundlegende Tätigkeit der Psyche das Imaginieren ist. Während der PTPP®-Ausbildung wird eine Herangehensweise vermittelt, die sich ganz und gar offen auf die Imagination einlässt. Die Dimension der tiefen Imagination wird dabei als eine zutiefst verbindende Form des menschlichen Wissens betrachtet; andere Dimensionen des Wissens sind Denken, Empfinden und Fühlen. Ein Teil der Ausbildung beinhaltet u.a. das  Entwickeln einer Beziehung zu allen Dimensionen unseres Wissens, damit diese anschließend untereinander in die richtige Balance treten können.

Der neue Mensch wird weder Wissenschaftler sein, der Gefühle und Imagination ablehnt, noch ein Schamane, der Wissenschaft ablehnt, sondern ein ganzer Mensch, der/die in der vollständigen Komplexität seines/ihres Wesens zu Hause ist.“ (104)

 

Innere Bilder ohne vorgefasste Ideen ...

Die Tätigkeit des Imaginierens geschieht stets auf ganz unmittelbare und lebendige Weise im gegenwärtigen Moment. PTPP® beinhaltet daher keinerlei vorgefasste Vorstellungen darüber, welchem Weg eine Reise zu folgen hat oder wie sie ausgehen sollte. Anders als im Schamanismus wird keine Deutung der Bilder, die in einer Tiefenimaginations-Reise auftauchen, vorgegeben. Der PTPP® vermittelt die Fähigkeit, sich respektvoll auf die aufsteigenden Bilder einzulassen, ohne auf Vorstellungen hinsichtlich ihrer Bedeutung zurückzugreifen. Stattdessen wird die reisende Person aufgefordert, das Bild – das sich oft als Tier zeigt – zu begrüßen, mit ihm zu sprechen und eine aufrichtige Beziehung zu ihm aufzubauen. Im Mittelpunkt der Arbeit steht einzig die gegenwärtige Erfahrung. 

Ein Beispiel hierfür wäre die Begegnung mit einer Schlange während einer Reise: Schlangen besitzen in vielen Kulturen eine große Bedeutung. Während sie in jüdisch-christlichen Traditionen als Symbol des Bösen oder der Versuchung betrachtet wird, steht sie im Hinduismus mit der Kundalini-Energie in Verbindung. Unter indigenen Ayahuasca-Kulturen Südamerikas ist die Pflanze Ayahuasca eng mit der Schlange verbunden und kann deren Gestalt annehmen. 

In einer Tiefenimaginations-Reise ist jedoch keine dieser Interpretationen zulässig. Was zählt ist die direkte Erfahrung, die der oder die Reisende in dem Moment mit der Schlange durchlebt. Sollte die reisende Person irgendeine der oben genannten Interpretationen – sprich: bestimmte Gedanken über die Schlange haben, so wird sie dazu angehalten, dass sie diese der Schlange in der Reise mitteilt und anschließend zuhört, was die Schlange selbst darauf antwortet. Genauso soll jede Art von Gefühl … Freude, Angst, Ekel … mitgeteilt werden. Ziel ist es, im gegenwärtigen Augenblick präsent und sowohl gegenüber dem Tier als auch sich selbst ehrlich und offen zu sein. Es geht nicht darum, auf das Tier (z.B. die Schlange) zu projizieren. Die Aufgabe besteht lediglich darin, in einer ehrlichen Beziehung mit dem Tier zu sein.

 

Tierbegleiter verändern sich auch mal… 

Daraus folgt auch, dass die Tiere, die einem in einer Tiefenimaginations-Reise begegnen, anders als im Schamanismus nicht als „geistige" oder "spirituelle Führer“ und auch nicht als höhere Wesen betrachtet werden. Solche Auffassungen werden als Vorstellungen angesehen, die der Reisende entwickelt und daher dem Tier in der Tiefenimaginations-Erfahrung mitgeteilt werden sollten. Außerdem werden sich die Tiere, die in beispielsweise während einer Chakra-, einer Sinnes-, einer Vier-Fenster (oder anderen) Reise erschienen, höchstwahrscheinlich immer dann verändern, wenn die innere Dynamik des Reisenden sich ändert oder wenn sich Probleme durch Heilung und Wachstum lösen. Es kann passieren, dass Tiere, die in einer Reise erscheinen, in der nächsten Reise nicht da sind. Diese Tierbegleiter sind also nicht unbedingt so beständig wie man es von einem „geistigen Führer“ erwarten mag.

 

Es geht um Beziehung ...

Gleichermaßen gibt es im Schamanismus bzw. im Rahmen schamanischer Praktiken oft ein spezifisches Verständnis von den Orten, an denen Führungswesen leben wie Unterwelt und Oberwelt; auch gibt es kulturell festgelegte Arten, wie diese Welten bereist werden. Im PTPP® gibt es keine Voraussagen dazu, wie oder wo jemand seine oder ihre inneren Führer treffen wird. In einer Tiefenimaginationsreise erforschen die Reisenden jeweils ihre eigene Welt der tiefen Imagination und erkunden die Struktur, die ihre Imagination von selbst annimmt. 

Vorgedachte Ideen darüber, wie die tiefe Imagination strukturiert ist, werden folgendermaßen gehandhabt: Gedanken, die der/die Reisende trägt sind Dinge, derer er/sie sich selbst bewusst sein sollte und können gemeinsam mit den inneren Führungswesen betrachtet werden. 

 

Viele Leute, die in ihre tiefe Imagination zurückkehren, sind sehr erstaunt, wenn sie bemerken, dass die Imagination ein eigenes Leben und eine eigene Spontanität besitzt, dass sie nicht geneigt ist, den Diktaten des Willens zu folgen, dass sie ein Wissen besitzt, das sie gern teilt. … Viele Leute sind verblüfft wenn sie erkennen, dass Imagination ganz anders ist als Denken und dass ihre Gedanken darüber, welches Bild auftauchen sollte, meistens völlig unangebracht sind. Nicht selten taucht ein Tier auf, dass die Person zunächst ablehnt und versucht, es wegzuschieben; doch das Tier bleibt und besteht darauf, dass es da ist, wo es hingehört. Das Wachstum des Individuums findet dann statt, wenn eine Beziehung zu diesen tieferen Anteilen, die vorher abgelehnt wurden, entsteht.“ (78)

 

Zur Rolle des Imaginations-Begleiters

Ein anderer großer Unterschied zwischen Schamanismus und dem Personal Totem Pole Process® besteht darin, dass sich im Schamanismus der Schamane auf eine Reise für jemand anders begibt. Im PTPP® unterscheidet sich die Aufgabe des Begleiters (d.h. des zertifizierten TI-Begleiters nach Beendigung der dreijährigen Grundausbildung) völlig von der des Schamanen. Praktizierende des PTPP® betrachten sich selbst nicht als Heiler oder Heilerinnen. Die Aufgabe der Tiefenimaginations-Begleiter besteht darin, die Person, die sich auf eine Reise begibt, in Kontakt mit ihrer Imagination zu halten. Dabei geht es nicht darum, zu interpretieren oder einzugreifen. Vielmehr gilt es, das Zusammenspiel der reisenden Person mit ihrer eigenen Imagination so tief wie möglich zu unterstützen.

 

Die Tiere bieten uns die kraftvolle Gelegenheit, uns mit unserem Kern zu verbinden und sie bringen uns immer mehr dazu, mit diesem in Einklang zu leben.“ (137)

Reisen

Während im PTPP® der Begriff „Reise“ verwendet wird, um den aktiven Prozess des sich Einlassens auf die Tiefe Imagination zu beschreiben, beinhaltet dies kein spezielles schamanisches Verfahren. Auch werden bei PTPP®-Reisen keine schamanischen Hilfsmittel wie Trommeln oder Substanzen verwendet, um etwa den Einstieg in die Reise zu erleichtern. Stattdessen wird ein Zugang zur Tiefen Imagination durch Entspannung gewährt. Dies geschieht mit Hilfe der geschickten Begleitung eines erfahrenen TI-Begleiters, der bereits selbst viele Prozesse durchlaufen hat und nun die innere Reise einer anderen Person souverän zu unterstützen vermag. 

Nachdem ich ihm dabei half, so gut es ging zu entspannen, forderte ich ihn auf, sich auf sein Herz zu konzentrieren und ein Tier dazu einzuladen, ihm zu erscheinen.“ (30)

PTPP® legt Wert auf eine ganzheitliche Erfahrung während der Tiefenimaginations-Reise. Durch die Kommunikation mit den inneren Führungswesen nimmt der Reisende aktiv an der Reise teil, und zwar auf eine Weise, die nicht auf die verbale Ebene begrenzt ist. Ziel ist nicht die Erlangung von Informationen wie es bei vielen schamanischen Reisen der Fall ist. PTPP® ist tiefgehender als ein Frage-Antwort-Format oder ein rein verbaler Austausch, bei dem der Reisende auf der Denkebene bleibt. Stattdessen wird die reisende Person von einem erfahrenen TI-Begleiter dazu ermuntert, sich etwas wegzubewegen von einer einzig verbalen Interaktion, hin zu einem aktiven Austausch mit den inneren Führern.

 

Sie sind lebendig … bereit zu Taten und zur Transformation.“ (31)

 

Psychologisches Verständnis

Gewisse tiefenpsychologische Einsichten wie z.B. Polaritäten, Schattenarbeit, Auswirkungen von ungelösten vergangenen Problemen oder Verletzungen im Leben eines Menschen, die anhaltende Bewegung der Psyche in Richtung Balance und Heilung sind der Arbeit inhärent. Das Grundverständnis besteht darin, dass der Zugang zur Tiefen Imagination die Heilung ermöglicht, die geschehen soll – und zwar auf bestmögliche Weise für die beteiligte Person. Dr. Gallegos sagt,

 

„Das Wissen durch Imagination ist ein Wissen des Inneren, und ihr Anliegen ist Wachstum, Heilung und Ganzheit“. (22)

 

Das Ziel des PTPP® ist es letztlich, Menschen zu helfen, ihre inneren zentralen Aspekte von Lebendigkeit, Ganzheit und Balance wieder zu erlangen. Dieses Ziel unterscheidet sich von von den Zielen vieler schamanischer Praktiken und auch von jenen Formen der Psychotherapie, die sich mit „Anpassung“ d.h. mit dem Loswerden bestimmter Emotionen, der Veränderung des eigenen Denkens oder Verhaltens usw. auseinandersetzen.

 

Zusammenfassung 

Während sich sowohl PTPP® als auch Schamanismus mit Imagination zu Heilungsabsichten beschäftigt, unterscheidet sich PTPP® wiederum auf vielfältige Weise vom Schamanismus. Diese Unterschiede beinhalten:

 

  • PTPP® ist keine religiöse Tradition.

  • PTPP® kennt keine festgelegten Deutungen oder Assoziationen zu den inneren Führungswesen, denen eine Person begegnet. 

  • Ebenso wenig geht man davon aus, dass die tiefe Imagination eine bestimmte Struktur hat oder dass die Imagination der Menschen gleiche Formen besitzt. 

  • PTPP® beinhaltet nicht den Gebrauch von Ausstattungen schamanischer Traditionen. 

  • Geschulte TI-Begleiter unternehmen keine Reise für jemanden anders und nehmen nicht die Rolle eines Heilers ein, sondern unterstützen die Reisenden in der Interaktion mit der eigenen Imagination.  

© Dr. Mary Diggin, März 2014

Übersetzung: Raffaella Mayana Romieri 

Überarbeitung: Margrit Jütte (2020)

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